Religions- und Konfessionszugehörigkeit in Europa um 1850 

 

Die vier Karten dieser Serie machen die religiöse bzw. konfessionelle Bevölkerungsstruktur der europäischen Staaten im Jahr 1850 sichtbar. In der Zusammenschau ergeben sich Schlaglichter auf die Religionsgeschichte des Kontinents im 19. Jahrhundert. Die Karten zeigen: In den meisten europäischen Staaten dominierte weiterhin – seit dem Reformationsjahrhundert unverändert – eine Konfession. Drei der Karten zeigen die jeweiligen Bevölkerungsanteile an den drei am weitesten verbreiteten Religionszugehörigkeiten. Diese waren allesamt christlich – es handelt sich um das römisch-katholische Bekenntnis sowie um die protestantischen und die orthodoxen Kirchenfamilien. Die relativ hohe Kontinuität zur religiösen Situation in der Frühen Neuzeit zeigt sich auch daran, dass in einer Reihe nördlicher Staaten – von Großbritannien über Skandinavien bis Russland – sogar die Privilegien der Staatskirchen erhalten blieben. Doch vor allem in West- und Mitteuropa deutete sich ein Wandel an: Auch wo sich die traditionelle Religionsverfassung, wie im Vereinigten Königreich, nicht änderte, konnte die Toleranz gegenüber Minderheitsreligionen sehr hoch sein. Sogar im mittelitalienischen Kirchenstaat, den die europäischen Großmächte 1814/15, als Ausdruck ihrer Solidarität mit der päpstlichen Zentralgewalt, als einziges geistliches Territorium wiederhergestellt hatten, gab es jetzt ein gewisses Maß an Toleranz für Nichtkatholiken.

Andernorts hatten religionsrechtliche Reformen eine Pluralisierung eingeleitet: Die Napoleonische Ära hatte in vielen Regionen – besonders in den Staaten des Deutschen Bundes – ein Ende der Einheit von Herrschaft und Konfession gebracht. Als neues Modell galt der paritätische Staat, der sich zumindest gegenüber den traditionellen christlichen Bekenntnissen neutral verhalten sollte (Beispiele sind Preußen oder Bayern). Unter den Gläubigen wurden diese Veränderungen überwiegend begrüßt, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven: Während liberale Protestanten und Katholiken die Entflechtung von Staat und Kirche als individuellen Freiheitsgewinn aufgeklärter Bürger und Christenmenschen begrüßten, entwickelte sich seit ca. 1830 vor allem im deutschsprachigen Raum, aber auch in England ein teilweise aggressiver protestantischer Neukonfessionalismus. Dieser richtete sich jedoch stärker gegen liberale Tendenzen in der eigenen Konfession als gegen den Katholizismus: Während Protestanten im katholisch dominierten Südeuropa oft noch großen Schikanen ausgesetzt waren, gelang das interkonfessionelle Zusammenleben sonst trotz anderslautender theologischer Parolen relativ gut. Nur wo sich der konfessionelle Gegensatz mit politisch-ideologischen Antagonismen verband – wie im Konflikt der Schweizer Kantone untereinander (Sonderbundskrieg 1847) oder infolge des außenpolitischen Minderwertigkeitskomplexes der Großmacht Russland (Krimkrieg 1853-1856) –, konnte Religion noch ein (Mit-)Auslöser von militärischer Gewalt werden.

Nur wenige europäische Staaten besaßen 1850 bereits echte historische Erfahrung in Sachen religiöser Toleranz: Von jeher tolerant waren vor allem die Niederlande, was sich in der verhältnismäßig hohen Zahl jüdischer Einwohner widerspiegelt. Den in charakteristischer Weise unterschiedlichen Anteil der Juden an den jeweiligen Staatsbevölkerungen zeigt die vierte Karte.

Die Kartenserie zeigt in der Gesamttendenz die religiösen Beharrungskräfte bzw. ein flächendeckend in der großen Mehrheit christliches Europa. Dies gilt auch für die hier erfassten europäischen Territorien des Osmanischen Reiches: Dort räumte die Religionsverfassung dem Islam zwar gewisse Vorrechte ein, die Religionszugehörigkeit war aber prinzipiell ethnisch begründet; dementsprechend hingen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung dem orthodoxen Glauben an. (J. Wischmeyer)

 

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